„mahakaruna – oder sie und ich“

ihr war kalt.

diese stechende, schleichende kälte begann an der großen zehe, schlängelte sich um ihre beine bis zu den kniekehlen, wanderte weiter über ihre oberschenkel, umschlang kalt und ignorant ihren leib, in ihrem bauch hielt sie inne – sie begann zu zittern.

sie hatte das gefühl ein eisberg wachse in ihr, ihre innere wärme, die sich doch empfand, die sie manchmal auch spüren konnte, wurde von eis verschlungen wie die oberfläche eines stillen wassers. aber diese kälte. sie stieg weiter auf in ihre kehle, wuchs über ihre schultern hinaus, nahm ihren hinterkopf bis zu ihrem scheitelpunkt ein. kalte haut hüllte sie in einen mantel des nichts-fühlens.

warum war sie hier, schon wieder hier? sie wollte nie mehr, nie mehr wieder wollte sie doch hier her zurück, zurück in diese geschichte, zurück an diesen ort, in dieses gefühl zurück.

doch wieder waren wir mitten drinnen in diesem gefühl, nur wussten wir das noch nicht oder nicht mehr. dieses gefühl war eigentlich das einzige, worin wir uns heimisch, wohl und aufgehoben fühlten. eine vertraute tradition, die angefangen hatte … ja womit eigentlich? es musste wohl ein fein säuberlich eingeübter mechanismus sein, der sich schleichend aber stetig manifestiert hatte und zu einer struktur wurde – und irgendwann kann man schließlich gar nicht mehr anders, man wüsste auch nicht wie. egal wie verzweifelt ein „man“ sich bemüht, mit dieser struktur zu brechen, uns aufzubrechen. irgendwann ist es unmöglich auszusteigen, frei zu sein, sich anders als nach dem mechanismus zu verhalten und schließlich will man gar nicht mehr, bis … ja bis ….

damals hatte sie kein gefühl davon, und auch heute, aber das wusste sie noch nicht oder nicht mehr. kaspar hatte ein gefühl davon. bestimmt. es tat ihr leid, was sie diesem fremden, unschuldigen wesen angetan hatte. wie hatte sie auch nur so unvorsichtig sein können und warum hatte sie sich diesen ort ausgesucht? sie hätte sich verstecken und verbergen müssen. vor anderen. vor der möglichkeit entdeckt zu werden. sie war damals – und auch heute, nur wusste sie das noch nicht oder nicht mehr – nicht in dem zustand sich zu verinnerlichen, was sie ihrer umgebung durch ihr handeln zugefügt hatte – und immer noch zufügt – aber das wusste sie nicht, noch nicht. es lag absolut außerhalb ihrer gedanklichen und emotionalen möglichkeiten, eine vorstellung davon zu entwickeln, was ihr handeln aus der perspektive eines anderen für diesen anderen nach sich zieht;

die perspektive der anderen einzunehmen, die derer die ihr nahe standen und stehen und auch die derer die ihr fremd waren aber durch „zufall“ ihren weg kreuzen mussten … daher blieb ihr verschlossen was es heißen könnte sich mit ihr und ihrer weise des mit-sich-selbst und dadurch mit-den-anderen-umgehen, zu konfrontieren.

wir hatten dieses gefühl schon sehr verdrängt. so sehr, dass wir heute nicht einmal mehr bemerkten, dass es eigentlich gar nie verschwunden war und niemals verschwunden sein würde. es war uns heute wie damals zu viel. es war unangenehm – noch immer . wir schämten uns dafür. wir fragten uns damals – und auch heute, nur das wussten wir noch nicht oder nicht mehr – „how to disappear completely“, aber wir fragten nicht weiter … . diesen fragen, was danach – nicht für uns, sondern für andere – kommt, konnten wir uns damals nicht stellen. vielleicht deshalb, weil es unmöglich war, darauf eine antwort zu finden die es uns erlaubte es sozusagen „ruhig anzugehen“.

sie wollte – und was dieses wollen war, ist eigentlich nicht ganz klar, denn eigentlich wollte sie ja nicht – herausfinden warum, sie wollte ihre story rekonstruieren. dieser ort hatte nämlich nichts. nichts begehrenswertes, nichts was ihr etwas sagen oder zeigen könnte dafür was damals passiert war – aber auch nicht für das jetzt, aber das wusste sie nicht, dass er ihr jetzt, hier etwas zeigen könnte oder zeigen sollte – er hatte nichts was sie anziehen hätte sollen, was sie anziehen hätte dürfen…

nur diese erinnerungen … sie hatte es gelernt, sie hatte gelernt, nicht mit ihnen zu leben.

sie saß in ihrem wagen, bewegungslos. kalt. sie starrte durch die angelaufene und von wasserperlen verzierte frontscheibe. immer wieder blieb ihr trauriger blick – den sie nicht sah, von dem sie nichts wusste, noch nicht – an einem der tropfen kleben und verfolgte einen, den nächsten, und wieder einen… . diese tropfen machten schluss mit der dunkelphase in ihrem bewusstseinsstrom … die erinnerung drang spürbar in ihren körper und ihr bewusstsein ein, stand real und greifbar vor ihr.

es ging uns damals darum, hinüberzufließen oder gar nicht mehr zu fließen. die tropfen kamen damals nur mit einem anderen druck, sie hatten einen anderen rhythmus. damals pulsierten, sie…und wir erinnerten uns, es war ein angenehmes, heimeliges, wohliges gefühl. vom scheitel bis zu den zehenspitzen.

aber wie, wie konnte sie so versunken gewesen sein, dass sie nicht bemerkt hatte hierher zurückgeführt worden zu sein, warum nur war sie so unvorsichtig gewesen und nur für einen augenblick, so neben sich, dass dieser moment ihres lebens wieder so klar vor ihren augen stand? man hatte ihr gesagt, dass bestimmte umstände, bestimmte voraussetzungen, die bedingungen für die möglichkeit der erinnerung wohl wieder erschaffen könnten. sie musste diese bedingungen irgendwie hergestellt haben, obwohl aber auch vielleicht weil sie so gut aufpasste, dass dies nicht geschah.

wir waren damals glücklich. wir hatte ihn. wir konnten uns und unsere ängste, unseren eifer und unsere süchte und unsere eifersucht zur sprache bringen. unsere bedenken, die absolut und immer schon irrational gewesen waren, wurden im diskurs darüber zerschlagen. aber in uns selbst hielt das immer nur für einen moment. von psychohygiene hatten wir gehört, waren aber nicht in der lage sie an uns selbst anzuwenden. immer blieb dieses destruktive denken und dieses gefühl sich selbst spüren zu müssen, aber es nicht zu können, übrig. warum sollte gerade uns jemand so bedingungslos lieben? was genau war denn so unvergleichlich so interessant an uns, dass es jemanden anderen so anziehen könnte? wir konnten nicht vertrauen. sobald es funktionierte und wunderbar war, das gegenüber uns das schöne aufzuzeigen und zu vermitteln versuchte, begann unsere selbstinterpretationsmaschine die nicht nur unsere gedanken zu interpretieren versuchte, sondern ständig und unaufhaltsam schlüsse für andere zog. und das war fatal. aus erkenntnistheoretischer perspektive, das wussten wir, war das unmöglich. in der theorie beherrschten wir alles, in der distanz lag unser schutz. nur an uns selbst und unseren gefühlen scheiterten wir. unaufhaltsam.

wir wissen noch dass wir damals – am höhepunkt eines selbst-produzierten und aus-dem-nichts-produzierten eigentlichen nichts, das eben kein thema sondern nichts war, nichtig war und das hauptsächlich durch das durchdringende unseres unaufhaltsamen fragens entstand, bis wir einen punkt finden konnten, an dem sich die unproblematische und harmonische beziehung an einer auseinandersetzung reiben konnte – einfach aufstanden und die wohnung verließen. zu viele momente davor, hatten wir ihn schon so weit gebracht, dass er uns analysierte und uns auch ein wenig durchschaut hatte. er wusste bescheid und hatte mittlerweile ein gefühl davon, wie unser selbst funktionierte, er wollte uns da raus holen. so sehr liebte er uns. aber das verstanden wir nicht und wenn wir es verstanden dann immer nur für kurze augenblicke. was war es nur, dass es uns so unmöglich machte uns mit unserem selbst und mit der akzeptanz dieser liebe auseinanderzusetzen – es einfach anzunehmen, sich dem einfach hinzugeben?

wir hatten auf jeden fall den raum verlassen, die wohnung, das haus. wir fühlten uns von der eigenen destruktiven art in die enge getrieben, glaubten aber dass er es war, der uns in die enge trieb und verstanden nie ihn, sondern immer nur die interpretation, die negative auslegung die wir kontinuierlich durch unsere maschinerie getrieben hatten – damit das positive ausgespuckt, ausgefiltert und vergessen werden konnte und als essenz nur das nicht und das nichts übrigblieben. schließlich konnten wir nicht mehr und wussten keinen ausweg, für uns nicht und auch für ihn. dieses gefühl kannten wir, aber noch nie war es so stark, weil auch die liebe noch nie so groß war. auch seine liebe war so groß, aber wir schafften es nicht, das zu verstehen.

wir befanden uns in einem unaufhaltsamen strudel, der uns nach unten zog. in das dunkle, das negative, in die einsamkeit, in die opferrolle, in die selbstwertlosigkeit, in die depression. die destruktive seite an uns hatte in uns ihren archimedischen punkt gefunden, hatte sich innen breit gemacht, eingenistet und nur manchmal ließ sie durch das grau der wolken einen blitzenden lichtstrahl zum vorschein kommen, der zuerst von nebel, dann von vorbeiziehenden wolken und schließlich von der nacht verschlungen wurde – immer wieder, immer wieder. bis heute – aber das wussten wir noch nicht oder nicht mehr.

sie stieg aus. das blaulicht von damals brannte unter ihren füßen. tok, tok, tok … tok, tok, tok … sie erinnerte sich an das geräusch eines auf dem asphalt der unterführung die zum spielplatz führte aufprallenden balles, ein hallendes tok, tok, tok … ein gleichmäßiger rhythmus. plötzlich stand kaspar vor ihr. kurz bevor sie in diesen bewusstlosen schlaf hinüber gleiten konnte sah sie in sein schockiertes, erstarrtes gesicht. was danach geschah wusste sie nicht mehr. davor hatte es sich plötzlich warm angefühlt. warm, wohlig, weich, innen und außen und es fühlte sich richtig an, den schmerz hatte sie damals – und es wäre auch heute noch so aber das wusste sie noch nicht oder nicht mehr – nicht gespürt. sie hatte genau beobachtet wie sich aus den schnitten die sie langsam von ihren fußsohlen zu ihren knöcheln, und ein wenig darüber, an ihren armen, an der innenseite, den daumenstrang entlang bis zurück in die armbeuge setzte…diese angeblich ihre lebendigkeit bedeutende flüssigkeit verabschiedete, wie sie sich zuerst unspektakulär langsam, dann in pulsierendem takt aus ihrem körper befreite…sie beobachtete diesen „ausbruch“ mit bewunderung, ja mit einer faszination für den vorgang an sich. sie dachte noch „das bin also ich, ich nach außen gekehrt, ich von innen heraus“ und sie dachte auch „wie lange es wohl dauern würde?“ sie spürte wie sie langsam in einem rausch versank, wie sich alles in ihr, was sie zuvor so verkrampfen ließ, all das, dass sich so gegen sie selbst zu richten bemühte, auflöste. das tat gut, das war schön. so, nur so, konnte sie sich spüren. leicht, schwerelos, frei von … .

wie hatten wir ihm das nur antun können? wir hatten dieses kind nie mehr wieder gesehen, aber wir oder mindestens manchmal eine von uns stellte sich manchmal die frage, wie oft er uns wohl noch gesehen hatte? in langen ruhelosen nächten vielleicht und wir hofften insgeheim, dass diese erfahrung mit uns, mit ihr und mir, wenigstens ihm etwas gezeigt hatte. wir dachten auch es hätte ihr was gezeigt, aber das hatte es nicht. wir wussten es nur noch nicht oder nicht mehr.

diese erinnerungen waren nicht gut für sie. sie bekam eine sehnsucht, sehnsucht danach, dass es wieder damals war aber diesmal gelungen wäre…

wir verließen damals das krankenhaus allein. wieder waren wir in den alten, gewohnten zustand zurückgekehrt. ein zustand in dem uns zwar immer etwas fehlte, aber ein zustand in dem wir – also ich immer etwas mehr als sie – uns in uns selbst sicher fühlen konnten, emotional stabil und autonom. dieses abhängig-werden und abhängig-sein von einem anderen subjekt, weil man sich dem begehren ausgesetzt hatte war es, was wir nicht zulassen konnten. wir konnte nicht mit derartigen gefühlen umgehen und die extreme, das begehren und die abhängigkeit die daraus folgt, in uns verbinden und ein ausgeglichenes, ausgewogenes verhältnis dieser beiden extreme in uns herstellen. obwohl wir doch um die grautöne in allem zwischenmenschlichen – aus der theorie und von anderen – durchaus wussten. doch es war unmöglich für sie, wie auch für mich. der traum alles überwinden zu können durch eine gegenseitige endlose faszination am geist am körper und an der seele des gegenübers, war für sie und auch für mich ein ideal, und ideale waren weder umsetzbar noch erreichbar, davon waren wir überzeugt. denn eigentlich wollten wir ja den boden unter den füßen nicht verlieren, wir wollten realistisch sein, wir wollten real bleiben. wir wussten dabei nicht einmal mehr, warum das eigentlich so war. wir wollten es auch gar nicht mehr wissen, sie noch weniger als ich. was wir wussten und das wussten wir auch heute noch und würden es auch in zukunft noch gewusst haben, wenn sie sich und damit mir, also uns, die möglichkeit dazu nicht genommen hätte, dass wir dabei auf keinen endpunkt, keine lösung kommen könnten und somit auch keine erlösung von dieser unaufhaltsamen destruktion erlangen würden.

sie war schon längst nicht mehr dort. sie wusste noch nicht oder nicht mehr, dass es auch heute schon wieder bald so weit sein könnte, weil es zu schön war. und nicht nur das, es war viel schöner, es war perfekt! und das verstand sie nicht. sie hasste sich dafür so geliebt zu werden und auch ihn hasste sie dafür, dass er so liebte – aber auch sie, sie liebte ihn.

zwischen der wiederholung der vergangenheit und den erinnerungen an die gegenwart drängten sich die spontanen bewussten ideen über eine nahe zukunft, sie wusste und das wusste sie schon lange, dass sie diese kreisenden, selbstzerstörerischen emotionen und prozesse veräußern, ja entäußern musste – in etwas anderes umsetzen, irgendwie hinterlassen, irgendwie … in form bringen, aufschreiben – sie hatte das mir gegenüber erwähnt, schon öfters und wollte mit mir darüber verhandeln. ich hätte sie gerne dazu gezwungen, aber ich war immer zu schwach, sie dazu zu bringen, es wirklich für uns zu tun! und jetzt in diesem moment, in dem ich da sitze, plötzlich – ich hätte niemals damit gerechnet – und sie da liegen sehe, regungslos, wie in einen tiefen schlaf versunken liegen sehe, begreife ich sie, begreife ich endlich uns.

ich versuche aufzustehen, schleiche leise durch ihre sonnen-durchflutete wohnung, durch unsere sonnen-durchflutete wohnung. gehe wie auf tausenden kleinen glasscherben, mache mich leicht, splitter die am boden liegen funkeln mich an, lassen mich die explosion, die abspaltung, die loslösung (noch) nicht vergessen. das unberbittlich grelle licht der tiefstehenden wintersonne trifft auf meine netzhaut und ich taste mich durch ihre räume, durch unsere räume, es ist hell, fast zu hell … jetzt muss ich es tun, jetzt, aufschreiben, für uns, bevor ich, bevor wir … . … sie wollte es so.

meine zitternden und unsicheren schritte legen bei jedem auftreten ein stück des mit glassplittern bedeckten bodens frei: …kaspar …warum… tok… tok… tok… psychohygiene… nie mehr… abhängigkeit… mut… pulsieren… depression… regentropfen… eines oder mehrere worte, mit jedem schritt…mit jedem wort verwandelt sich meine gegenwart und löst sich in erinnerungen an das jetzt auf. hatte sie alles schon einmal versucht, alles? Hatte ich es schon einmal versucht? hatten wir es schon einmal versucht? … einmal?

uraufgeführt im Kosmos Theater Wien, November 2016